Der gelb blühende Stechginster wiegt sich im Winterwind vor dem Fenster der Wattenmeerstation des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in List auf Sylt. „Eigentlich gehört die ursprünglich zur Dünenbefestigung angepflanzte Art gar nicht nach Sylt“, stellt Prof. Dr. Karsten Reise fest. „Er blüht sogar im Winter, wo doch kein Insekt ihn hier bestäuben könnte. Ich freue mich dennoch an ihm, wenn ich aus meinem Fenster in die Dünen blicke.“
Nicht nur der Europäische Stechginster (Ulex europaeus) ist eine verwilderte Art, ein so genannter Neophyt. Auch viele Tiere wie die Pazifische Auster (Crassostrea gigas) oder die Pantoffelschnecke (Crepidula fornicata) kommen ursprünglich aus anderen Regionen der Erde und wurden u.a. über den internationalen Schiffsverkehr ins Wattenmeer verfrachtet. Viele dieser Arten schaffen es nicht, wenigen aber gelingt es, sich in diesem extremem Lebensraum anzusiedeln. Reise wertet das als einen kaum noch abwendbaren Prozess, nicht zuletzt weil das Wattenmeer mit der Nordsee im Austausch steht. Er vertritt den Naturschutz und setzt sich für natürliche Ufer trotz Küstenschutz gegen Meeresanstieg und Sturmfluten ein. Reise ist kein Verwalter des marinen Artenspektrums, sondern jemand, der früh Konzepte entwickelte, wie der Mensch den Naturraum nachhaltig nutzen kann und wenig überformt. Für Viele sind seine Ideen schwierig, weil sie mit Blick auf den ansteigenden Meeresspiegel um den Fortbestand von Ländereien und Ortschaften fürchten. „Mittlerweile aber gibt es mehr, die glauben, der hat zwar andere Sichtweisen, aber vielleicht hat er ja doch recht“, stellt Reise fest.
Ein wandelndes Kompendium
Reise spricht leise und überlegt. Seit Mitte der 1970er untersucht er mit internationalen Kooperationen das Wattenmeer. Er wohnt seitdem auf Sylt und beobachtet den Wandel des Ökosystem zwischen Land und Meer. Für viele ist der ehemalige Leiter der Wattenmeerstation ein wandelndes Kompendium des Küstenraumes, ein unermüdlicher Anwalt eines dauerhaften Wattenmeeres in seinen natürlichen Grenzen zwischen Dänemark im Norden und den Niederlanden im Westen. Für andere ist Reise jemand, der die kontrollierte Öffnung der Deichlinien als Antwort auf den ansteigenden Meeresspiegel fordert. Diese Idee läuft der jahrhundertealten Maxime des Kampfes gegen das Meer mit Deichen als starren Abwehrlinien entgegen. Und dennoch hat sich Reise im Laufe der Jahrzehnte den Respekt der Insulaner, Wasserbauer aber auch unzähliger Studenten erarbeitet. Dies ist ihm nicht zuletzt durch seine freundliche Art gelungen und durch seine Fähigkeit, sich dem Gegenüber aufmerksam zuzuwenden und zuzuhören. Das war auch für mich ein wichtiger Grund, weshalb ich Reise seinerzeit bat, meine Doktorarbeit zu betreuen. Unser gemeinsames Interesse ist die Forschungsgeschichte des Wattenmeeres.
… und ein unermüdlicher Wissenschaftler
Und auch nach vielen Jahrzehnten der Wattforschung blickt Reise neugierig in den Naturraum, der weltweit einzigartig ist und sich immerfort wandelt. Einen Status quo gibt es nicht, auch kein Gleichgewicht des Ökosystems, wie es in vielen Biologiebüchern noch immer beschrieben wird. Reise verfolgt das Geschehen und hat mit seiner Arbeit Wesentliches zum modernen Verständnis des Wattenmeeres und seiner Dynamik beigetragen. So war er maßgeblich an der Ernennung des Wattenmeeres zum UNESCO Weltnaturerbe 2009 beteiligt.
Nach seiner Pensionierung 2013 hat er seinen Beruf zum Hobby gemacht. Er schätzt die Möglichkeit, hinter seinem Haus die Dünenlandschaft zu genießen und die Wattflächen zu durchstreifen. Er schreibt noch immer wissenschaftliche Artikel und öffentlichkeitsorientierte Bücher. Ein Aufhören ist für ihn nicht in Sicht.
Weitere Informationen:
Invasive Arten: “Gekommen, um zu bleiben” (Helmholtz-Gemeinschaft, 12.10.2016)
“Das geht zwar langsam, aber es geht auch unerbittlich”
Meeresbiologe warnt vor steigendem Meeresspiegel im Watt (Deutschlandfunk 17.03.2010)
Widerstand zwecklos
Die Nordsee steigt. Was nun? ntv (06.10.2015)
Das Sandwunder von Sylt Spiegel (17.02.2016)
Germany: Battling the Dike Mafia Pulitzer Center (25.11.2016)
Heimatbilder
Prof. Karsten Reise konnte ich gewinnen, sich am Projekt “Heimatbilder” zu beteiligen. Seine Ansichten zum Thema sind Teil des gleichnamigen Buches als eine Sammlung von profitierten Ansichten zu dem, was Beheimatung, Identität und das Gefühl des Zuhauseseins bedeuten können.
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